HOCH-N:Wofür „braucht“ man ethische Reflexion?
Ethik „als Theorie des (...) vorzuziehenden Handelns bzw. als Theorie ‚guten‘ Handelns“[1], welche auf die Verwirklichung von individueller Freiheit bei gleichzeitigem Respekt der Freiheit des Gegenübers verwiesen ist, kann nicht rezeptartig fertige Antworten bereitstellen. Spezifische Aufgabe eines ethischen Diskurses ist es vielmehr, einerseits zu ergründen, worin das moralische Problem praktischer Fragen besteht, das theoretisch-moralphilosophisch in wissenschaftlicher Hinsicht behandelt wird. Andererseits geht es darum, unterschiedliche Positionen auf ihre Berechtigung zu prüfen und aufzuzeigen, welche Spannungen zu benennen und zu lösen sind. Grundlage für den anwendungsorientierten Diskurs ist es, die moralischen Ansprüche, die innerhalb des Diskurses erhoben werden, zu definieren, auf Voraussetzungen und Grenzen hin zu untersuchen und (notwendige oder potenzielle) Implikationen von Argumenten zu klären.[2]
Sowohl die Komplexität der Sachverhalte wie auch das Tempo der Veränderungen nehmen rapide zu. In der Politik wie auch in der Wirtschaft droht ein Phänomen, das man als strukturelle Handlungsunfähigkeit in Bezug auf die langfristigen, strategischen Herausforderungen unserer Epoche beschreiben könnte. Lösungen für diese Probleme erschließen sich jedoch nicht auf den ersten Blick. Erforderlich ist es vielmehr, sich bis zu dem eigentlichen Kern der Problemstellung „vorzudenken“, diesen freizulegen und von dorther Lösungsansätze zu entwickeln. Gelingt es dann auch noch, diesen Mehrwert gut strukturierten und innovativen Denkens sichtbar zu machen, ist der erste Schritt zur Bewältigung der diffusen Problemlagen bereits vollbracht. Auf diesen Grundlagen aufbauend ist es Aufgabe der ethischen Diskussion, die moralischen Ansprüche zu systematisieren, zu reflektieren und kritisch zu prüfen. Hierbei sind Begründungsfragen der verwendeten ethischen Verständnisse zu behandeln, wobei Kontroversen hinsichtlich der Begründungen und Methoden der Ethik auftreten können.[3] Im Anschluss an die Begründungs- und Abwägungsüberlegungen können die einzelnen (meist widerstreitenden) Ansprüche gewichtet und miteinander bzw. gegeneinander abgewogen werden. Politisch betrachtet bieten die Diskussionen einen Orientierungsrahmen auf der gemeinsamen Suche nach einer adäquaten Beschreibung und einer entsprechenden Erfassung einer Problemstellung, um sich schließlich über einen Lösungsansatz zu verständigen und einen Beitrag zur Problemlösung zu leisten.[4]
[1] Mühling, Markus (2012): Systematische Theologie. Ethik. Eine christliche Theorie vorzuziehenden Handelns, Göttingen / Bristol, 34.
[2] Vgl. Ostheimer, Jochen / Zichy, Michael / Grimm, Herwig (2012): Was ist ein moralisches Problem? Zur Reflexion von Aufgabe, Methodik und Gegenstand der angewandten Ethik, in: Zichy, Michael / Ostheimer, Jochen / Grimm, Herwig (Hg.): Was ist ein moralisches Problem? Zur Frage des Gegenstandes angewandter Ethik, Freiburg im Breisgau / München, 11-32, hier: 12-14.
[3] Hier kann es zu einer Pluralität aufgrund verschiedener moralischer Wert- und Normvorstellungen kommen, die beispielsweise auch auf unterschiedliche ethische Theorievorstellungen oder gar auf politische Präferenzen zurückzuführen sind. Diese Diversität der angewendeten Maßstäbe zu respektieren und in die Entscheidungsbildung einfließen zu lassen, stellt eine zentrale Aufgabe ethischen Denkens dar, indem man sich der Argumente kritisch vergewissert und das Vorgehen sowie die Begründungen reflektiert und abwägt (vgl. Ostheimer et al. 2012, 13f.).
[4] Vgl. Höffe, Otfried (2013): Ethik. Eine Einführung, München, 16-21; 28.