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Version vom 18. Februar 2021, 13:48 Uhr

Wann immer wir uns etwas zurücklehnen und versuchen das Ganze einer Institution oder eines Prozesses zu erfassen, fällt der Begriff der Kultur. Da es in diesem Leitfaden um das Thema Bildung für Nachhaltige Entwicklung geht, wird in den Debatten häufig die Anforderung geäußert, es müsste sich die Lehr-Lern-Kultur ändern, damit BNE aufgenommen werden könnte. Damit sind wir einer schwierigen Debatte um einen gehaltvollen Begriff. Auch in der Selbstbeobachtung der Hochschulen wird zunehmend versucht, die Lehr-Lern-Kultur zu beschreiben und damit sichtbar und gestaltbar zu machen. Gleichzeitig wird leicht der Eindruck erzeugt, dass es eine bestimmte Lehr-Lern-Kultur geben müsste, die BNE fächerübergreifend ermöglicht.

Im akademischen Kontext tauchen Begriffe wie Fächerkultur, Universitätskultur, Hochschulkultur, Lehrkultur, Studierendenkultur u.a.m. auf. Auf Grund der schnellen und vielseitigen Entwicklung in der Gesellschaft, der Arbeitswelt und der Bildungspolitik werden immer vehementer Veränderungen in der Lernkultur im Bildungssystem gefordert.[1] Richtet sich der Blick speziell auf die Hochschulen tauchen dort Schlagworte, wie „Kompetenz- und Outputorientierung“, „Orientierungswissen“, „Persönlichkeitsentwicklung“ und der „Shift from Teaching to Learning“ auf. Mittels des Wandels der Lernkultur gilt es auf die gesellschaftlichen Veränderungen und Anforderungen der heutigen Wissensgesellschaft zu reagieren. Die Änderung von Strukturen wird nicht um ihrer selbst willen durchgeführt, sondern um das Ziel, Lernkulturen der Hochschulen im Allgemeinen und das Lernen von Studierenden im Speziellen, zu beeinflussen.[2]

Wie auch in der Organisationstheorie bleibt hier die Frage offen, wie ein Kulturwandel ergebnisorientiert vollzogen werden kann. Dies liegt unserer Meinung nach daran, dass es zum einen schwierig ist, das Ergebnis, mithin die neue Kultur, im Vorhinein festzulegen, zum anderen ist der sogenannte Change- oder Transformationsprozess selten direkt zu gestalten. Wir wissen inzwischen, dass es auch hier ein Dilemma gibt: Je klarer das Ergebnis vorgegeben wird, desto künstlicher muss der Changeprozess durchgezogen werden (wie z.B. bei der Einführung des Europäischen Hochschulraums); je natürlicher und partizipativer der Changeprozess gestaltet wird, desto offener ist das Ergebnis. Wir gehen davon aus, dass es einen gezielten Kulturwandel nicht geben kann. Kultur ergibt sich als Reaktion auf komplexere Umstände und diese Kultur kann stimmig zur Komplexität sein oder unstimmig. Es gibt keine richtigen oder falschen Kulturen. Wenn sie unstimmig sind, dann ergeben sich meist schwer zu durchschauende Konfliktlagen in den Organisationen und die Menschen ziehen sich psychologisch zurück. In diesem Sinne könnte auch der heute häufig zu beobachtende Burnout als Indikator für eine der Komplexität unangemessene Kultur dienen.

Der Wandel von Lernkultur ist nicht automatisch eine Folge der Einführung von unterschiedlichen Interventionen zur Veränderung der Lehr-/Lernpraxis. Kulturen sind deutlich komplexer, als dass sie sich über das Vorhandensein oder Nichtvorhandensein von neuen oder innovativen Lehr-/Lernformaten definieren lassen. Kulturen stellen gemeinsam konstruierte Realitäten dar, welche sich aus impliziten Grundannahmen, Wertevorstellungen und Normen zusammensetzen. Diese Kulturen nehmen direkt und indirekt Einfluss auf das Handeln.[3] Der Begriff der Kultur an Hochschulen umfasst eine Vielzahl von Faktoren, die sowohl strukturelle Merkmale der Hochschule, als auch individuelle Motive und Interessen der Hochschulangehörigen umfassen. Mit der Digitalisierung taucht eine Innovation auf, die die Frage aufwirft, wie die Kultur digitalen Lernens aussehen muss, die der Komplexität der Technik gerecht wird.

Auch in diesem Portal bieten wir keine akademischen Reflexionen zur Beschreibung von Lehr-Lern-Kulturen an, sondern zeigen Ihnen die Räume auf, die Sie für eine Entwicklung der Kultur gestalten können. Um es noch einmal zu betonen: Wir gehen dabei nicht davon aus, dass es ‚die‘ richtige Lehr-Lern-Kultur gibt. Wir gehen davon aus, dass es eine für Ihre Kontexte stimmige Lehr- Lern-Kultur gibt, die die zunehmende Komplexität an Hochschulen und Ihres Faches bewältigen hilft.

Die Komplexität im Lehr-Lern-Kontext von Hochschulen wird durch die folgenden Einflussfaktoren gegenwärtig vorangetrieben:

  • Das von der Wissenschaft erzeugte Wissen nimmt beständig zu, die Zeiträume zur Vermittlung bleiben aber konstant.
  • Der externe Anspruch, Kompetenzen zu vermitteln ist gegensätzlich zur Erzeugung nachprüfbarer individueller Wissensbestände.
  • Die Heterogenität der Studierenden nimmt beständig zu: Vorwissensbestände und Wissensaneignungsprozesse werden immer vielfältiger und stoßen auf standardisierte Lehr-Lern-Prozesse.
  • Jede Einheit Qualitätsverbesserung der Lehre erfordert mehr Zeit von den Lehrenden, die auf Kosten anderen Aufgaben gehen wie Forschung und Selbstverwaltung.
  • Die Digitalisierung erfordert neue Kompetenzen von den Lehrenden.
  • In fast allen Studiengängen bleibt die Anzahl der Studierenden zu hoch für die Anzahl finanzierter Lehrkräfte.
  • Die Befristung von Stellen der Lehrkräfte verhindert einen systematischen didaktischen Kompetenzaufbau vor allem im Mittelbau.
  • Der Anspruch zur Gestaltung der Beziehung von Lehrenden und Lernenden auf Augenhöhe wirkt sich erheblich auf die Identität von Professor*innen aus.

Bildung für Nachhaltige Entwicklung wirkt sich vor allem mit den folgenden beiden Einflussfaktoren auf die Gestaltung der Lehr-Lern-Kultur aus:

  1. Fachlich stellt Nachhaltigkeit in vielen Disziplinen die Kernaussagen des Mainstreams in Frage und erzeugt widersprüchliche Realitätskonstruktionen.
  2. Menschlich lässt sich Nachhaltigkeit am besten vermitteln, wenn die Lehrenden dem Thema eine große persönliche Bedeutung geben. Damit geraten die Lehrenden noch viel stärker als Person in den Fokus, deren persönliches, privates Verhalten offen zur Diskussion steht.


Zum Kulturbegriff

Jede Organisation hat eine Kultur. Je mehr diese Organisation aus unterschiedlichen Teileinheiten zusammengesetzt ist, desto disparater können die Kulturen der Teilbereiche sein. So ist es auch bei einer Hochschule. Als Expertenorganisation beinhaltet sie die Kulturen verschiedener Fächer, verschiedener Statusgruppen und verschiedener Prozesse wie Forschung, Lehre und Selbstverwaltung. Die Beschreibung des Begriffes Lernkultur ist in der Literatur mit sehr unterschiedlichen Ausprägungen und Schwerpunktsetzungen zu finden. Es wird jedoch immer deutlicher, dass eine Lernkultur weit mehr ist, als die Art und Weise der Interaktion zwischen Lehrenden und Lernenden. Die Lernkultur speist sich aus zwei Quellen, auf der einen Seite aus den individuellen Merkmalen der beteiligten Individuen.[4] Die zweite Quelle beinhaltet die organisationalen Strukturen, Regeln und etablierten Routinen der Organisation.[5] Obwohl die Lernkultur Teil zumeist fester organisationaler Strukturen ist, wird sie als „bestimmbar, operationalisierbar und gestaltbar“ beschrieben.[6] Die „Gestaltbarkeit“ oder „Wandlungsfähigkeit“ einer Lernkultur ist der Aspekt, der in diesem Raum den thematischen Fokus legt. Seufert (2007) geht davon aus, dass die geplante Beeinflussung nur in Grenzen möglich ist, sie gestaltet werden kann, aber nicht technisch beeinflussbar ist.[4] Prozesse die die Entstehung und Veränderung der Lernkultur hervorrufen sind häufig sich wandelnde gesellschaftliche oder organisationale Rahmenbedingungen, wie beispielsweise die Anforderungen der Bologna-Reformen. Auch einzelne Mitglieder der Organisation können Initiator für den Wandel einer Lernkultur sein.[7]

Aus den vielen Strukturierungsversuchen in der Literatur haben wir den Ansatz von Edgar Schein gewählt und weiterentwickelt, weil er das besonders betont, was unserer Erfahrung nach sehr wichtig ist in der Entwicklung von Kultur: der Umgang mit den unsichtbaren Anteilen von Organisation, über die wir alle unterschiedliche mentale Karten haben. Die bekannten drei Ebenen sind in Abbildung 18 dargestellt.

Abbildung 18: Ebenen der Organisationskulturen (Quelle: eigene Darstellung nach Schein 2003)

Wir haben diese drei Stufen weiterentwickelt und insbesondere die zweite Stufe anders gefasst. Grundlage ist die organisationstheoretische Überlegung, dass alle Organisationen durchzogen sind von logischen Spannungsfeldern, die nicht sichtbar sind.[8] Kurz erläutert umfassen die Kultur einer Hochschule und damit auch die Teilkultur des Lehr-Lern-Geschehens die folgenden drei Ebenen:

  1. Die Ebene der Artefakte: Damit ist alles gemeint, was deutlich sichtbar das Lehr-Lern-Geschehen steuert: die Gebäude, die Gremien, die Prüfungsordnungen, die ministeriellen Vorgaben, die Herkunft der Lehrenden und Studierenden, die Prüfungsprozesse, die Veranstaltungsformen usw. Artefakte sind alles das, was für alle sichtbar das Lehr-Lern-Geschehen steuert.
  2. Die Ebene der Spannungsräume: Hochschulen positionieren sich mit ihren Strategien, Selbstbeschreibungen, Selbsterzählungen und Leitsätzen in den grundlegenden Spannungsfeldern von Kultur und Organisation. Die Spannungsräume selbst bleiben meist unsichtbar, sie werden in den Selbsterzählungen in Gremien, in der Außenkommunikation und auch im direkten Lehr-Lern-Geschehen immer, zumeist aber unbewusst gestaltet.
  3. Die Ebene der Grundannahmen: Grundannahmen sind tief verinnerlichte Selbstpositionierungen von Mensch und Institution in ihren Umwelten und Annahmen über die Umwelten, die das Verhalten zumeist unbewusst steuern. Die Transformation von Kultur beginnt mit der Aufdeckung und Neuerzählung von Grundannahmen der Lehrenden über Studierende, der Studierenden und Lehrenden über ihr Fach, der Kommunikation über die anderen Fächer und Disziplinen und andere mehr.

Während die Artefakte immer sichtbar sind, sind die Spannungsräume nur indirekt über ihre Bewältigungs- formen zu erkennen. Die Glaubenssätze sind unsichtbar und zumeist unbewusst. Die Metapher, die diese Ebenen am treffendsten visualisiert, ist das Eisbergmodell. In der nachfolgenden Abbildung haben wir das Modell von Schein auf den konkreten Kontext der Lehr-Lern- Kultur übersetzt. Wir verstehen dieses Bild nicht als empirisch bestätigte Abbildung von Lehr-Lern-Kultur, sondern als Angebot, die Tiefe von Kulturentwicklung zu verstehen. Nützlich ist diese Abbildung dann, wenn sie Ihnen die Möglichkeit gibt, Unterschiede zu erkennen, die für Sie einen Unterschied machen und neue, nütz- liche Schritte in Richtung einer Integration von BNE in die bestehende Kultur zu unternehmen. Die einzelnen Ebenen erläutern wir im weiteren Teil des Leitfadens.

Abbildung 19: Das Eisbergmodell zur Kulturanalyse (Quelle: eigene Darstellung)

Tatsächlich können Sie die Ebenen nicht einzeln oder nacheinander bearbeiten. Was hier in der linearen Darstellungsform nicht abbildbar ist, ist die Tatsache, dass die Glaubenssätze erheblich beeinflussen, wie die Spannungsräume gestaltet werden und die Spannungsräume letztlich die sichtbaren Artefakte konstruieren. Anders herum beeinflussen die vorhandenen Artefakte die Bewältigung der Spannungsräume, welche wieder zurückwirkt auf die Glaubenssätze, indem sie sie bestätigten oder irritieren. Was in der Tiefe der Lehr-Lern-Kultur ineinander verschachtelt ist, muss in der Kulturanalyse erst einmal getrennt betrachtet werden. Dazu machen wir im Weiteren einige Vorschläge.

Analyse der Artefakte auf der sichtbaren Ebene

Die Analyse der Artefakte, die eine Integration von BNE beeinflussen, ist der einfachere Teil der Kulturanalyse. Die Grundfrage lautet: Sind die Ordnungsmittel und die äußeren Gegebenheiten hilfreich oder hinderlich für BNE? Den Ordnungsmitteln und hier vor allem dem Curriculum mit der Prüfungsordnung kommt dabei die größte Bedeutung zu: Gibt es hinreichende Freiräume, um neue Veranstaltungen aufzunehmen? Grundsätzlich gilt: Jede Prüfungsordnung ist veränderbar, wenn alle Gremien zustimmen bis zu den Ministerien. Der Personalbestand und die vertretenen Fächer gehören auch zu den sichtbaren Artefakten eines Fachbereichs oder einer Fakultät. Gibt es Kolleg*innen, die das Thema Nachhaltigkeit lehren wollen und können? Auch hier gilt grundsätzlich: Jeder Personalbestand und jede Fächerstruktur ist veränderbar durch die relevanten Gremien, wenn auch nicht so schnell wie die Ordnungsmittel. Solche Veränderungen sind leichter möglich, wenn die beteiligten Menschen sich sicher durch die logischen Spannungsfelder von Hochschulen manövrieren.

Ebene der Spannungsräume

Jede Organisation ist durchzogen von logischen Spannungsfeldern, die dem System Energie geben. Diese Spannungsfelder sind logisch, weil die beiden Pole zur Erreichung der Ziele des Systems gleichermaßen wichtig sind, sich aber wechselseitig ausschließen. Wenn der eine Pol verfolgt wird, muss der andere vernachlässigt werden. Diese Dilemmata haben Menschen nicht gerne, weswegen in den meisten Organisationen diese Dilemmata nicht besprochen werden. Das liegt auch daran, dass die Denklogik der meisten Menschen, auch in Hochschulen, eine Entweder-Oder-Logik ist. In Spannungsräumen brauchen wir aber eine Sowohl-als-Auch-Denklogik, die wiederum voraussetzt, dass wir die Spannungen und Dilemmata aus- halten können. Die dazu benötigte Fähigkeit nennt man Ambiguitätstoleranz. Wenn diese nicht vorhanden ist, dann werden Spannungsfelder ignoriert und es kommt zu merkwürdigen Anomalien und Konflikten in Organisationen.

Das grundlegende Spannungsfeld einer Organisationskultur ist das zwischen Offenheit und Geschlossenheit.

  • Eine Kultur muss sich deutlich von anderen Kulturen unterscheiden können und gegen externe Einflüsse abschirmen, damit sie überleben kann. Universitäten schließen sich beispielsweise gerne gegenüber Hochschulen ab, um den Unterschied in der Forschungskompetenz zu wahren. Eine völlig geschlossene Kultur ermöglicht keinerlei Anpassung an mehr Komplexität und führt zu einem starren System, welches irgendwann untergeht.
  • Eine Kultur muss deshalb gleichzeitig auch offen sein können, um externe Einflüsse aufzunehmen und sich selbst weiterzuentwickeln. Eine völlige offene Kultur verliert wiederum aufgrund zahlreicher Umwelteinflüsse bald ihre eigene Identität und wird zum Spielball externer Kräfte.

Das Lösungskonzept in der Bewältigung von Spannungsfeldern ist Balance. Ein ausbalanciertes System pendelt entweder mit seinen Maßnahmen zwischen den Polen oder tariert auf verschiedenen Ebenen die Maßnahmen so aus, dass ausreichend viele den einen Pol und ausreichend viele den anderen Pol bedienen. Einen analytischen Blick auf die Art und Weise der Austarierung zu bekommen, ist gar nicht so einfach.

In diesem grundsätzlichen Spannungsraum von Offenheit, um die Identität weiterzuentwickeln, und Geschlossenheit, um den Identitätskern zu bewahren, spielen sich alle Prozesse in Hochschulen ab. In den folgenden Dimensionen der Lehr-Lern-Kultur konkretisieren sich diese Polaritäten:

Institutionelle Dimension: Vorgaben und Freiheiten

Der europäische Hochschulraum hat mit dem Bachelor- und Mastersystem die Lehr-Lern-Kultur mit zahlreichen Vorgaben beeinflusst. Diese Vorgaben reduzieren die Freiheiten der einzelnen Hochschulen zugunsten eines international standardisierten Systems von Studiengängen. Zugleich haben die Studierenden eine erhebliche internationale Mobilität gewonnen, Freiheiten, die das ECTS-System ermöglicht. Auch alle Ordnungsmittel an Hochschulen sind Vorgaben, die die Freiheiten der Lehrenden einschränken und zugleich Sicherheit für die Studierenden schaffen.

Didaktische Dimension: Rezeption und Reflexion

Dieses Spannungsfeld haben wir auch auf für unseren Möglichkeitsraum im Portal 2 verwendet. Viele Studiengänge sind so aufgebaut, dass in den unteren Semestern der didaktische Prozess auf die Rezeption von Wissen ausgerichtet ist, um eine kognitive Grundlage zu legen. Mit dieser können dann in höheren Semestern reflexive Wissensaneignungs- und Wissensdurchdringungsprozesse angeboten werden. Das Verhältnis von rezeptiv zu reflexiver Didaktik hängt sehr stark von den Eigenheiten und den Glaubenssätzen eines Faches ab.

Individuelle Dimension: Distanz und Nähe

In diesem Spannungsraum wird die Begegnung von Lehrenden und Studierenden gestaltet. Je distanzierter sich Lehrende und Studierende begegnen, desto einfacher ist es für beide, ihre Identitäten und Rollenbilder zu wahren und das Prüfungsgeschehen in kritischen Fällen zu durchleben. Auch die Bewältigung großer Studierendenzahlen setzt eine Distanz zwischen Lehrenden und Studierenden voraus und ermöglicht es auch Studierenden, in einer anonymen Maße unliebsame Fächer zu bewältigen. Je näher sich Lehrende und Studierende kommen, umso mehr tritt die Person hinter der Funktion hervor und umso leichter ist die Aneignung kritischer Wissensbestände und das Lernen am Vorbild. Es wird aber psychologisch schwieriger, kritische Bewertungsfälle zu bewältigen, wenn man sich auf Augenhöhe begegnet.

Outcome Dimension: Wissen versus Kompetenz

Wissenschaft schafft Wissen und vermittelt es. Die Wissensaneignung ist mit herkömmlichen Prüfungsmethoden wie Klausuren, Hausarbeiten oder mündlichen Prüfungen bewertbar und damit standardisierbar. Wissen allein führt aber nicht zu kompetenten Problemlösungen. Kompetenzen vermitteln heißt letztlich, die Kompetenzen, die die Studierenden mitbringen zu erkennen und in jedem einzelnen Fall weiterzuentwickeln. Kompetenzentwicklung wäre demnach nicht standardisierbar und prüfbar.

Medien-Dimension: Digitalisierung versus Präsenz

Auf der einen Seite ringen viele Hochschulen mit der Anwesenheitspflicht, weil die Präsenz im Raum es viel besser ermöglicht, Lernprozesse zu beobachten und durch Diskussion anzuregen. Dieses Lehr-Lern-Arrangement ist sehr personalintensiv, weil diese Art des Lehrens die kleine Gruppe voraussetzt. Lehrveranstaltungen mit großen Studierendenzahlen haben schon den Charakter des Distance Learnings, welches seine Reinform in Lernvideos hat. Studierende haben im Zuge der Digitalisierung heute zahlreiche Möglichkeiten, auf den Lernstoff raum- und zeitunabhängig zuzugreifen. Der Lernprozess kann von den Lehrenden nicht mehr beobachtet werden, nur in Prüfungen bewertet.

Analyse der Spannungsebene der Lehr-Lern-Kultur

Die Analysefrage lautet: Sind die vorhandenen Maßnahmen zur Bewältigung der Spannungsräume hinreichend ausbalanciert? Der Bezugspunkt für diese Frage ist das Maß an Komplexität, welches ein Studiengang oder ein Fach bewältigen muss. Diese Komplexität entsteht durch die Vielfalt an kombinierten Studiengängen, die Vielfalt an Lehr-Lernformen, die Anzahl der Lehrenden, die räumlichen Möglichkeiten, die Wahlmöglichkeiten der Prüfungsordnung, der Abstimmungsaufwand mit anderen Fachbereichen und vieles mehr. Die nachfolgende Abbildung verdeutlicht, wie eine Ausbalancierung zwischen den Spannungsfeldern möglich ist. Natürlich gibt es für diese Balance keine festen Muster. Jede Hochschule entscheidet faktisch selbst, welches Muster sie als stimmig erachtet. Vermutlich ist es so, dass Studiengänge, die bislang eher rechts auf der Skala ihre Ausprägungen gewählt haben, durch die Besonderheiten von BNE eine deutliche Bewegung nach links machen müssen. Ob und wie diese Bewegung stattfindet, wird dann maßgeblich von unbewussten Grundannahmen geprägt, die unsichtbar aus den Tiefen des Eisbergs das Verhalten lenken. Sie werden weiter unten thematisiert.

Abbildung 20: Visualisierung der Ausbalancierung von Spannungsfeldern (Quelle: Eigene Abbildung)

Die Bewältigung von Spannungsfeldern und Dilemmata ist eine besondere Herausforderung, die auch in der Literatur zu Veränderungsprozessen erst ansatzweise thematisiert wird. Die grundlegenden Schritte zur Neubalancierung der Spannungsfelder sind die folgenden [9]

  1. Das Dilemma muss akzeptiert werden und die Pole benannt werden (z. B. Reflexion versus Rezeption)
  2. Die logischen Bewältigungsformen wie Sequenzialisierung (Pendelbewegungen), Segmentierung (hybride Lösungen) und Balancierung müssen bekannt sein.
  3. Der Trade-off der Veränderung muss offen benannt werden. Es wird immer ein Preis gezahlt, das heißt die Wirkungen eines der Pole werden reduziert.
  4. Es wird eine Einigung herbeigeführt, welches Ausmaß an Trade-off nicht mehr akzeptiert wird (wie viel Rezeption des Wissens muss erhalten bleiben).

Tatsächlich ist die Hauptleistung der Neubalancierung der Spannungsfelder sich darauf zu einigen, welcher Trade-off akzeptiert wird. So gibt es keine Veränderung in einem naturwissenschaftlichen Studiengang, wenn die Gremien nicht bereit sind, das Maß an Fachveranstaltung zu reduzieren, um überfachliche Anteile wie BNE verpflichtend aufzunehmen. Der Trade-off der Veränderung liegt darin, dass die Studierenden einige Credit Points weniger Workload in speziellen Veranstaltung absolvieren müssen und damit dieses Wissen nicht haben. Die Austarierung des Spannungsfeldes von Vorgaben und Freiheiten stellt eine große Herausforderung für die Lehrenden dar.

Grundannahmen rund um das Thema Nachhaltigkeit an Hochschulen

Welche Grundannahmen können Lehrende und Lernende zueinander, zu ihrem Fach und zu Nachhaltigkeit haben? Je nach Disziplin sind diese Grundannahmen sehr unterschiedlich. Interessant sind zumeist die nicht förderlichen Grundannahmen zu identifizieren, die eine Integration von BNE erschweren. Nachfolgend sind einige mögliche Grundannahmen aufgelistet.

Hemmende Grundannahmen der Disziplinen für eine Zuwendung zur Nachhaltigkeitsthematik

Naturwissenschaften:

  • Gute Naturwissenschaftler/innen müssen ihr Fach so intensiv erlernen, dass das Korsett von vorgegebenen Kreditpunkten keinen Raum lässt für überfachliche Qualifikationen. Diese müssen außerhalb des Studiums erworben werden.
  • Gute Naturwissenschaften sind immer auch Umweltwissenschaften und damit per se nachhaltig.

Ingenieurwissenschaft:

  • Ingenieure lernen das zu entwickeln, was die Wirtschaft braucht. Wenn diese keine nachhaltigen Technologien einfordert, dann braucht diese auch nicht gelehrt zu werden.
  • Bessere Technologien retten die Welt, nicht soziale Diskussionsprozesse.

Wirtschaftswissenschaften:

  • Nachhaltigkeit ist eine Modeerscheinung, die wie viele andere auch vorübergeht.
  • Ohne Wachstum kann Wirtschaft nicht funktionieren.

Sozialwissenschaften:

  • Gesellschaft wird nur empirisch beobachtet.
  • Nachhaltigkeit ist nur ein Diskurs wie viele andere auch.

Pädagogik:

  • Das Lehramtsstudium muss die Studierenden vor allem in die Lage versetzen, das schwierige soziale Geschehen in den Schulen zu bewältigen.
  • Nachhaltigkeit ist ein Wert und Werte dürfen nicht vermittelt werden (Überwältigungsverbot).

Hemmende Grundannahmen der Lehrenden, sich Nachhaltigkeit zuzuwenden:

  • Der Forschungsdruck ist so groß, dass wir nicht mehr in die Qualität der Lehre investieren können.
  • Gute Studierende lernen sowieso alles, unabhängig von der Qualität der Lehre.
  • Studierende müssen vor allem lernen, in kurzer Zeit große Stoffmengen auswendig zu lernen, wenn sie gute Akademiker*innen werden wollen.
  • Ein Großteil der Studierenden gehört sowieso nicht an die Hochschule, weil sie intellektuell überfordert sind.
  • Mein Fach ist so wichtig für den learning out come, dass es noch mehr CP im Curriculum braucht (auf keinen Fall weniger).
  • Studierende können nicht wirklich wählen welche Lehrinhalte für den Lernerfolg relevant sind. Es muss möglichst viel im Pflichtbereich angeboten werden.
  • Komplexe Probleme kann man nur lösen, wenn man seine eigene Disziplin bis in die Tiefe hinein verstanden hat.
  • Studierende interessiert das Thema nicht, sie wollen Karriere machen.
  • Wenn ich Nachhaltigkeit lehre, muss ich meine eigenen Werte offenlegen.
  • Kollegen und Kolleginnen, die sich mit Nachhaltigkeit beschäftigen, untergraben den Mainstream mit unwissenschaftlichen Aussagen.

Hemmende Grundannahmen der Studierenden, sich Nachhaltigkeit zuzuwenden:

  • In der Arbeitswelt ist zu viel Nachhaltigkeitswissen hinderlich für die Karriere.
  • Ich habe schon genug damit zu tun, die Anforderungen zu erfüllen.
  • Nachhaltigkeit ist ein ‚Schwafelthema‘ für alle die mit den fachlichen Anforderungen nicht zurechtkommen.
  • Ich habe Nachteile bei den Mainstream-Professoren, wenn ich mich für Nachhaltigkeit einsetze.
  • Für meine Karriere muss ich vertieftes Fachwissen nachweisen können.
  • Professoren und Professorinnen sind nicht an gesellschaftlichen Themen interessiert. Die schauen nur auf ihre Lieblingsthemen.

Hemmende, allgemeine Grundannahmen zum Thema Nachhaltigkeit:

  • Der bildungspolitische Auftrag, BNE einzuführen, untergräbt die Autonomie von Forschung und Lehre.
  • Wenn die Gesellschaft BNE möchte, dann soll sie auch Geld dafür zu Verfügung stellen.
  • Nachhaltigkeit ist kein Thema der Wissenschaft, sondern der Politik.
  • Kreative Forschungsprozesse vertragen keine Restriktionen durch Energie- oder Rohstoffeinsparung.
  • Hochschulen sind per se nachhaltig, weil sie stabiles und lang wirkendes Wissen vermitteln.

Analyse von Grundannahmen

Immer dann, wenn Veränderungen anstehen, beeinflussen die unbewussten Grundannahmen die Reaktionen der Beteiligten. Für Hochschulen bedeutet dies: Diskutieren die Hochschulangehörigen in Gremien oder Flurgesprächen eine anstehende Veränderung, aktivieren Sie insbesondere in ihren ablehnenden Haltungen häufig unbewusst ihre hemmenden Grundannahmen. Wie aus Coaching und Change-Managementprozessen bekannt ist, gehört ein großes Feingefühl dazu, insbesondere die unbewussten, hemmenden Grundannahmen zu erkennen und zur Sprache zu bringen. Schließlich sind diese Grundannahmen in vielen Jahren erworbene Selbstpositionierungen, die Sicherheit geben und vor allzu großem Veränderungsdruck schützen. Die Erfahrung zeigt, dass natürlich auch in Hochschulen die Menschen nicht gerne ihre hemmenden Grundannahmen hören wollen. Die Selbstpositionierung von Hochschullehrer*innen gegenüber Studierenden zu verändern, ist ein Entwicklungsprozess der Person, der im distanzieren Arbeitsleben unter Kolleg*innen ungern besprochen wird. Natürlich zeigen sich Lehrende und Studierende am liebsten in ihrer Funktion und verbergen ihre Person, mithin ihre ganze Individualität. Diese Distanz erleichtert den Bewertungsprozess, der das Lehr-Lern-Verhalten von beiden Seiten immer noch maßgeblich beeinflusst.

Transformation, mithin Organisationsveränderungen in einem größeren Maßstab setzt voraus, dass die Beteiligten sich ihrer Grundannahmen und Glaubenssätze bewusst werden und aktiv an der Veränderung arbeiten. Aus dem Coaching ist bekannt, dass es externen Moderator*innen am ehesten gelingen kann, einem sozialen System seine Grundannahmen zu spiegeln. Wenn Gremien sich einer Veränderung verschließen, könnte eine Moderation weiterhelfen. Hier scheint eine wesentliche Voraussetzung gerade für das Hochschulsystem die zu sein, dass Moderator*innen das Hochschulsystem gut kennen und nicht die Methoden aus der Wirtschaft unkritisch anwenden. Es gilt insbesondere das Ethos des Wissenschaftssystems und den Habitus der Professorenschaft anzuerkennen und in den Aushandlungsprozessen zu berücksichtigen. Grundannahmen sind selten falsch, sie haben fast immer eine Zeit der Stimmigkeit hinter sich und können unter den neueren Bedingungen hemmend wirken.

Ist man als Gremienleitung darauf angewiesen, hemmende Grundannahmen der Mitglieder zu bewältigen, empfiehlt sich ein behutsames Nachfragen, wenn Einzelne Verallgemeinerungen von sich geben (... alle Studierende wollen doch bloß Folien auswendig lernen) oder indirekt und direkt Ängste geäußert werden vor der Veränderung. Hinter jeder Grundannahme steckt das Potenzial für eine Ressource, welches aber sehr behutsam erschlossen werden muss. Eine bewährte Vorgehensweise ist es, die Grundannahme zu relativieren und um eine andere stimmige zu ergänzen. So könnte es beispielsweise heißen: Folien auswendig lernen, gibt den Studierenden viel Sicherheit, was von ihnen erwartet wird. Es stimmt aber auch, dass viele Studierende gerne zeigen wollen, wie sie gelehrte Inhalte reflektieren, kritisieren und erweitern können.

Literaturverzeichnis

  1. Schüßler, I., & Thurnes, C. M. (2005). Lernkulturen in der Weiterbildung. Bertelsmann.
  2. Jenert, T., Zellweger, F., Dommen, J., & Gebhardt, A. (2009). Lernkulturen an Hochschulen: Theoretische Überlegungen zur Betrachtung studentischen Lernens unter individueller, pädagogischer und organisationaler Perspektive.
  3. Schein, E. H. (1992). How can organizations learn faster?: the problem of entering the Green Room.
  4. 4,0 4,1 Akli, H. (2004). Unternehmenskultur und Lernkultur: Ergebnisse einer empirischen Untersuchung.
  5. Euler, D. (2005). Forschendes Lernen. na.
  6. Friebe, J. (2005). Merkmale unternehmensbezogener Lernkulturen und ihr Einfluss auf die Kompetenzen der Mitarbeiter (Doctoral dissertation).
  7. Siebert, H. (2000). Neue Lernkulturen. nbeb-Magazin, 2(2000), 1.
  8. Müller-Christ, G., & Pijetlovic, D. (2018). Komplexe Systeme lesen: Das Potential von Systemaufstellungen in Wissenschaft und Praxis. Springer-Verlag.
  9. Müller-Christ G (2014). Nachhaltiges Management. Einführung in die Ressourcenorientierung und widersprüchliche Managementrationalitäten. Baden-Baden.
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