HOCH-N:Was bedeutet Ethik für die Forschung?: Unterschied zwischen den Versionen

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Aktuelle Version vom 10. April 2024, 14:24 Uhr

Was bedeutet Ethik für die Forschung?
Zielgruppe
Forschende, Forschungsmanagement, ProfessorIn, Dozent(in)
Schnittstellen
Kategorien


Auf den ersten Blick wirkt es so, als spiele Ethik für die Forschung eine nachgeordnete Rolle. Wissenschaft beschränkt sich vielfach darauf, Teilbereiche der Realität zu analysieren und die inneren Zusammenhänge dieser Beobachtungen vermeintlich rein objektiv zu ergründen. Deshalb liegt der Eindruck nahe, dass sich viele Bereiche der Wissenschaft dem Analysemedium der Ethik, die auf eine bewertende Stellungnahme zielt, verschließen.

Handlungsbezogene Ethik und verstehensbezogene Wissenschaft scheinen sich also allenfalls insofern zu überschneiden, als der Forschungsprozess sowie die entsprechenden Forschungsmethoden und -ergebnisse letztlich ethischen Maßstäben genügen müssten und nicht etwa selber ein unmoralisches Handeln zur Folge haben dürften. In dieser Form und Funktion kommt der („angewandten“) Ethik lediglich im Sinne einer „wachenden Schrankenfunktion“ für viele Forschungszweige Bedeutung zu.[1] Die Relevanz der Ethik wäre demnach begrenzt auf die Restriktion bestimmter problematischer Forschungen wie z.B. am menschlichen Erbgut. Weil sich die langfristigen Folgen moderner Forschungserkenntnisse oft nur sehr schwer abschätzen lassen ist es bisweilen kaum absehbar, ob die gewonnenen Erkenntnisse für die Menschheit einen Fluch oder Segen darstellen werden – oder beides zugleich.[2]

Ethisches Denken fragt in seiner normativen Ausrichtung jedoch auch noch tiefgründiger nach den Maßstäben moralisch richtigen Handelns und geht somit sehr viel weiter, indem es scheinbar isolierte Handlungen in den sie tatsächlich umgebenden weiteren gesamtgesellschaftlichen  (globalen) Kontext einordnet und sie auf diese Weise aus gerechtigkeitstheoretischer Perspektive beleuchtet. Erst aus diesem Blickwinkel zeigen sich die alles menschliche Handeln verdeckt begleitenden Konflikte und Dilemmastrukturen, die einander entgegenstehenden Ziele und Werte, beispielsweise zwischen Freiheit und Verantwortung innerhalb der Forschung. So wird unter Berufung auf das moderne positivistische Wissenschaftsverständnis rasch übersehen, dass allen Forschungsprozessen Welt- und Menschenbilder zugrunde liegen, die tragende Bedeutung für den Erkenntnisprozess selbst haben und daher bewusst reflektiert werden müssen.[3]

Aus diesem weiteren ethischen Blickwinkel muss die Wissenschaft auch fragen, welche Rolle sie selbst in Bezug auf die fortschreitende, anthropozentrisch bedingte Umweltzerstörung einnehmen sollte, die die Lebenschancen gegenwärtiger und zukünftiger Generationen massiv bedroht.[4] Angesichts des Ausmaßes dieser Gefahr handelt es sich um eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, sodass auch die Wissenschaft eine Nachhaltigkeitsperspektive einnehmen sollte.[5] Hierzu bedarf es einer Nachhaltigkeitsethik, die systemische Zusammenhänge von Wechselwirkungen bedenkt.[6] Besondere Bedeutung kommt deshalb inter- und transdisziplinärer Forschung und der Kooperation mit außerwissenschaftlichen Akteuren zu, um die komplexe Problematik umfassend analysieren und Lösungswege entwickeln zu können, die in der Praxis tatsächlich konkrete Transformationen bewirken.

Mit Blick auf die Wirksamkeit der Forschungsergebnisse ist auch zu reflektieren, wie Wissen in der modernen Gesellschaft überhaupt organisiert ist und wahrgenommen wird.[7] Besondere Beachtung verdient dabei die Frage, wie mit der schieren Fülle an Wissen und der „Informationsflut“ umzugehen ist,[8] aber auch mit dem gerade hierdurch bedingten Bewusstsein von „Nichtwissen“.[9]

  1. Vgl. Deutsche Forschungsgemeinschaft (2019): Leitlinien zur Sicherung guter wissenschaftlicher Praxis. Kodex, Bonn: Deutsche Forschungsgemeinschaft, 16-17; Nida-Rümelin, J. (2005): Angewandte Ethik. Die Bereichsethiken und ihre theoretische Fundierung. Ein Handbuch. Stuttgart: Kröner, 851; Wilms, H. C. (2014): Die Unverbindlichkeit der Verantwortung: Ethikkodizes der Wissenschaft im deutschen, europäischen und internationalen Recht. Berlin: Duncker & Humblot, 42-43.
  2. Vgl. Deutscher Ethikrat (2014): Biosicherheit – Freiheit und Verantwortung in der Wissenschaft. Stellungnahme, Berlin: Deutscher Ethikrat, 53-86; Fraunhofer-Gesellschaft / Helmholtz-Gemeinschaft / Leibniz-Gemeinschaft (Hg.) (2016): Nachhaltigkeitsmanagement in außeruniversitären Forschungsorganisation. Handreichung. München: Fraunhofer-Gesellschaft / Helmholtz-Gemeinschaft / Leibniz-Gemeinschaft https://www.nachhaltig-forschen.de/fileadmin/user_upload/LeNa-Handreichung_final.pdf (letzter Zugriff: 23.12.2020), 11-12.
  3. Vgl. Vogt, Markus (2021): Christliche Umweltethik. Grundlagen und zentrale Herausforderungen. Freiburg im Breisgau: Herder, 303-312.
  4. Vgl. Vogt 2021, 313-323.
  5. Vgl. Vogt, M. (2019): Ethik des Wissens. Freiheit und Verantwortung der Wissenschaft in Zeiten des Klimawandels. München: oekom.
  6. Vogt 2021, 301-303.
  7. Vgl. Vogt 2019; Maasen, S. et al. (Hrsg.) (2012): Handbuch Wissenschaftssoziologie. Wiesbaden: Springer.
  8. Vgl. Ortner, H. et al. (Hrsg.) (2014): Datenflut und Informationskanäle. Innsbruck: Innsbruck University Press.
  9. Vgl. Maasen, S. (2009): Wissensoziologie. Bielefeld: Transcript, 66-67; Luhmann, N. (1992): Ökologie des Nichtwissens. In: ders., Beobachtungen der Moderne, Opladen: Westdeutscher Verlag, 149-220.
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