HOCH-N:Portal 1: Kernelemente der Hochschul-BNE

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Das UNESCO-Weltaktionsprogramm und der Nationale Aktionsplan für Deutschland streben an, Bildung für Nachhaltige Entwicklung (BNE) an allen Hochschulen zu implementieren und strukturell zu verankern. Wie kann die Integration von BNE in die verschiedenen akademischen Disziplinen, Studienfächer und Lehrformate gelingen? Gibt es eine gemeinsame Ausgangsbasis, aus der die individuellen Hochschulen „ihre“ BNE entwickeln können? Und was ist das Besondere an BNE in Hochschulen? 25 Jahre nach der ersten formellen Anerkennung der Relevanz von BNE in der Agenda 21 der UN-Konferenz für Umwelt und Entwicklung in Rio de Janeiro und nach der UN-Dekade BNE von 2005-14 ist die Frage nach Elementen und Qualität von BNE nach wie vor aktuell. Es gibt einen großen Fundus an Erfahrungsberichten, Fallstudien und empirischen Untersuchungen; wenn man jedoch nach (Qualitäts-)Kriterien für BNE sucht, findet man überwiegend Arbeiten, die sich auf Einzelelemente der BNE wie innovative Lehrformate, Interdisziplinarität, Kompetenzorientierung u. a. fokussieren. Das ist verständlich angesichts der Vielzahl und Breite der Elemente, die BNE ausmachen. Um BNE als Gesamtkonzept in verschiedene Orte der Hochschullehre zu integrieren, braucht es allerdings einen Überblick der „Kernelemente“, die Hochschulbildung für Nachhaltige Entwicklung (H-BNE) – unabhängig von Disziplin oder Hochschulform – ausmachen.

Der Orientierungsrahmen, der in diesem Kapitel vorgestellt wird, soll einen solchen Überblick bieten. Er ist als Ordnungsangebot gedacht, das heißt nicht als „Rezept“ mit exakten Vorgaben, sondern als „Menü“. Dazu gehören bestimmte „Gänge“, die aufeinander abgestimmt sind. Was jedoch in jedem Gang an Zutaten ausgewählt wird, ist durchaus regional und saisonal – also je nach Hochschule und Lehrkontext – verschieden. Die Struktur des Orientierungsrahmens hat auch eine qualitätssichernde Funktion: BNE hat erkennbar spezifische Elemente, vor allem Nachhaltige Entwicklung (NE) als thematisch zentralen Lehrinhalt. Andere BNE-Elemente, wie z. B. partizipative Lehrformate, gibt es jedoch auch in anderen Kontexten. Das führt in manchen Fällen dazu, dass das Vorhandensein einzelner in BNE enthaltener Elemente mit BNE gleichgesetzt wird. Wir argumentieren hier, dass BNE als Gesamtkonzept mehr ist als die Summe ihrer Teile, und dass die Kombination aller Kernelemente dieses „Mehr“ entstehen lässt. Die Menüstruktur bietet also eine Systematisierung, die es erleichtern soll, qualitativ hochwertige Hochschul-BNE selbst zusammenzustellen, alle Kernelemente der BNE einzubeziehen und sie gleichwohl den lokalen Gegebenheiten der verschiedenen Universitäten, Studiengängen, und Lehrformaten entsprechend auszugestalten.

Dabei sind die Kernelemente keine beliebige Auflistung: Die Struktur des Orientierungsrahmens richtet sich nach den Schritten im Curriculum-Design und zeigt jeweils auf, wie dort BNE eingebunden werden kann. Dadurch bietet der Orientierungsrahmen intuitive Schnittstellen zu bestehenden Curricula, an denen BNE in die Fachlehre integriert werden kann – oder explizite BNE-Lehre neu konzipiert. An diesen Schnittstellen beschreiben die Kernelemente das, was über Fachlehre und generell „gute Lehre“ hinausgeht und BNE-spezifisch ist. Das Konzept des Orientierungsrahmens wurde in einer HOCHN-Praxis-Forschungs-Session mit rund 40 Expert*innen aus der H-BNE gestaltet. Die Inhalte beruhen auf einer systematischen Literatur-Review der englischsprachigen wissenschaftlichen Literatur zu H-BNE. Daraus wurden 213 Artikel ausgewählt, die bereits Synthesen wichtiger Elemente für Hochschul-BNE und deren mögliche Qualitätskriterien anstreben. Diese wurden durch eine qualitative strukturierende Inhaltsanalyse ausgewertet [1].

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Die Kernelemente der H-BNE sind auf vier Ebenen angesiedelt:

  • Warum und wofür: die Begründung für die Notwendigkeit von BNE und ein daraus resultierendes Bildungsverständnis sowie die BNE-spezifischen Lernziele bzw. Lernergebnisse: Kompetenzen für Nachhaltige Entwicklung.
  • Was: Um die Lernziele der BNE zu verwirklichen, braucht es konkrete Lernbereiche im Curriculum, die über die Dauer der Lehrveranstaltung hinweg gestaltet werden. Diese Lernbereiche sind weder identisch mit Kompetenzen noch mit didaktischen Prinzipien, sondern sie sind als thematische Bereiche Platzhalter für Inhalte und Aktivitäten der Lehrveranstaltung (oder des Studienprogramms), die mit Hilfe passender didaktischer Prinzipien den Kompetenzerwerb (für NE) ermöglichen sollen.
    • Inhalt: NE-bezogene konkrete Lehrinhalte/Themen
    • Wissenschaft: NE-bezogene wissenschaftliche Arbeit der Studierenden, sowie Auseinandersetzung mit Wissenschaft als Teil von NE

Ethik: NE-bezogene ethische Grundlagen, sowie spezifische ethische Aspekte, die mit den gewählten NE-Inhalten und wissenschaftlichen Formaten verbunden sind

    • Partizipation: Möglichkeiten für Studierende in den o.g. Bereichen kollaborativ zu arbeiten und dies mit Unterstützung zu lernen, sowie an der Gestaltung von Lehre & Lernen (demokratisch) mitzuwirken und Verantwortung dafür zu übernehmen
  • Wie (& was): Transformative Didaktik, Methoden und Lehr-Lern-Formate, in denen BNE-Lehre stattfindet: Sie setzen das Bildungskonzept um und schaffen die nötigen Lern-Räume für die Lernziele. Wir beziehen uns hier sowohl auf Didaktik im engeren Sinn, also Ziele und Inhalte vermitteln, als auch auf Methodik, also die konkrete Umsetzung und Organisation der Lernprozesse. (Im Orientierungsrahmen ist dieser Bereich der Lehrplanung der Übersichtlichkeit halber als eigene Zeile dargestellt; Fachdidaktiker*innen können ihn sich auch querliegend zu den anderen Elementen vorstellen.)
  • Wohin: Bedingt durch die spezifischen Lernziele, -bereiche, -methoden und -formate ergeben sich besondere Bedarfe an Evaluation, Weiterbildung und Qualitätssicherung.

Der Orientierungsrahmen kann für die Implementierung von BNE auf verschiedene Arten eingesetzt werden:

  1. Für die inhaltliche Lehrplanung über den Zeitraum der Lehrveranstaltung oder des Studienprogramms.
  2. Für die Strukturierung der Lehre als ganzheitliche Praxis mit Kopf, Hand, und Herz.
  3. Für die inhaltliche Auseinandersetzung mit BNE und ihren Qualitätsmerkmalen. Dafür werden die einzelnen Elemente in diesem Kapitel weiterführend beschrieben.

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Ein Charakteristikum der BNE-Lehre ist, dass sie mehrere inhaltliche „Lernbereiche“ hat: nicht nur Nachhaltige Entwicklung (NE) als Lehrinhalt, sondern auch Wissenschaft (wissenschaftliche Zugänge und Wissensproduktion), nachhaltigkeitsbezogene Ethik sowie Partizipation im Sinne von Zusammenarbeit und demokratischer Teilhabe. Der Orientierungsrahmen kann dabei unterstützen, BNE-Lehre über den Zeitraum der Lehrveranstaltung zu planen:

  1. Die BNE-spezifischen Lernbereiche einbeziehen und Lernziele festlegen: was sollen Studierende am Ende der Lehrveranstaltung in jedem Bereich wissen und können? Was muss demnach in den Lehreinheiten berücksichtigt und thematisiert werden?
  2. Die Lernbereiche durch Aktivitäten sinnvoll miteinander verknüpfen: z.B. ein Projekt, das Studierende zu einem Nachhaltigkeitsthema (Inhalt) gemeinsam gestalten (Partizipation), zu dem sie relevantes Wissen produzieren (Wissenschaft) und in dem ethische Fragen der Nachhaltigen Entwicklung am Thema gelernt sowie in der Forschung einbezogen werden (Ethik). Welche Projektphasen gibt es während der Lehrveranstaltung?
  3. Eine passende Lehr-Lern-Umgebung und Didaktik ausarbeiten: Welche (nachhaltigkeitsbezogenen) Kompetenzen können darin eingesetzt/geübt werden?
  4. Evaluationsformen auswählen: Welche Evaluationsformen in Anbetracht der besonderen Lehrgestaltung passend sind und zu welchen Zeitpunkten, kann so ebenfalls gut eingeschätzt werden.

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Bildung für Nachhaltige Entwicklung ist als ganzheitliche Bildung konzipiert: sie spricht Kopf, Herz und Hand (head, hands, and heart) an [2]. Dies wird in der BNE-Literatur in Bezug auf BNE-Curriculum-Design auch als Knowing, Acting, und Being bezeichnet [3], und in Bezug auf BNE-Lernziele als cognitive learning objectives (kognitive Lernziele), behavioural learning objectives (Handlungs/Verhaltensbezogene Lernziele) und socio-emotional learning objectives (reflektive, sozial-emotionale Lernziele) [4]. Es handelt sich dabei um drei Dimensionen des Lernens, die zum Kompetenzerwerb nötig sind. Studierende können so die Kompetenzen für Nachhaltige Entwicklung in einer Lehre erproben, die BNE-spezifische Lernbereiche durch die Dimensionen ganzheitlichen, kompetenzorientierten Lernens erfahrbar macht:

  • Knowing: Der gezielte Einsatz mehrerer Lernbereiche in BNE bedeutet, dass diese jeweils Wissen/Inputs benötigen. Hier geht es jedoch auch um den Einsatz verschiedener Wissensformen und Zugänge zum Wissenserwerb, wie z. B. Interdisziplinarität. Da sich Nachhaltigkeitsthemen ständig entwickeln, geht es über im aktuellen Curriculum notwendiges Wissen hinaus besonders darum, sich neues Wissen durch passende Zugänge erschließen, kritisch bewerten und sinnvoll einsetzen zu lernen.
  • Acting: Handlungskompetenzen brauchen die Orientierung auf das praktische Umsetzen: hier werden die Lernbereiche in konkreten Kontexten angewandt, um Fähigkeiten zur Realisierung von z.B. NE-Forschungsprojekten zu lernen. Darüber hinaus geht es um professionelle Kompetenzen: neue Berufsbilder und Arbeitsformen (gerade im Bereich NE) entstehen. Statt nur für einen bestimmten Beruf ausgebildet zu werden, brauchen Studierende die Fähigkeit, sich neue Arbeitsaufgaben und -Umgebungen zu erschließen.
  • Being: Ein besonderer Schwerpunkt der BNE liegt auf persönlichem Lernen im sozialen Kontext: die eigenen Werte und die Weltanschauung, die Rolle (in Communities oder als Wissenschaftler*in/ Fachkraft), das eigene Handeln und dessen Konsequenzen bzgl. Nachhaltiger Entwicklung reflektieren; Empathie entwickeln; mit eigenen Emotionen, Motivation, Unsicherheiten und Zweifeln umgehen. Dieses Lernen braucht explizite Räume der strukturierten Reflektion und des respektvollen Austausches, und auch Anleitung, wie beides funktioniert. In gut strukturierter H-BNE können diese sowohl kognitiv-handlungsbezogenen als auch sozial-emotionalen und Selbst-Kompetenzen in Bezug auf alle Lernbereiche geübt werden. „Being“ bedeutet auch: Freiräume für persönliche Entwicklung!

Im Folgenden werden die Kernelemente beschrieben und Möglichkeiten der Umsetzung aufgezeigt. Bei der Implementierung in konkreten Lehrkontexten und Curricula wird die Ausprägung der Elemente selbstverständlich an diese sowie an die Voraussetzungen und Bedürfnisse der Lernenden und die Möglichkeiten und Ressourcen der Lehrenden angepasst. Am Ende jedes Abschnitts findet sich eine These zu „guter“ Hochschul-BNE, die zur eigenen Auseinandersetzung mit Qualitätsmerkmalen anregen möchte.

Begründung – Notwendigkeit und Herausforderung von BNE

Leitfrage: Wie begründe ich als Lehrende*r/Programmverantwortliche*r den Einsatz dieses Bildungskonzepts?

Bildung für Nachhaltige Entwicklung als Bildungskonzept hat sich in einem spezifischen historisch-politisch-kulturellen Rahmen entwickelt, geleitet von der Erkenntnis, dass die Übernutzung natürlicher Ressourcen durch Teile der Menschheit das Überleben der gesamten Menschheit und der nicht-menschlichen Natur zu gefährden beginnt [5], [6]. Außerdem ist diese global wirksame Nicht-Nachhaltige Entwicklung und ihre Geschichte eine der Hauptursachen für globale Ungleichheit, Ungerechtigkeit, und viele Formen der Armut. Darin wird die Notwendigkeit von Nachhaltiger Entwicklung begründet, und damit auch BNE als wichtiger leverage point („Hebel-Ansatzpunkt“) für die gesellschaftliche Transformation hin zu Nachhaltiger Entwicklung. BNE hat hier drei tiefe Wurzeln, an denen Hochschulbildung ganz besonders gut anknüpft:

  1. Wissenschaft: Die oben genannte Einsicht beruht auf wissenschaftlichen Erkenntnissen, z.B. die Endlichkeit von Ressourcen, Veränderungen in Biosphäre und ökologischen Systemen durch menschliche Einflüsse, bestehende und zu- künftig mögliche Auswirkungen auf soziale Systeme. Wissenschaftliche Daten zeigen Problematiken auf wie z. B. anthropogenen Klimawandel, Hunger, u. a. – die sogenannten Grand Challenges. Der Diskurs von NE, und damit auch BNE, beruht also auch auf einem Ver- ständnis von Wissenschaftlichkeit: Dass es zum einen möglich ist, nachvollziehbare Daten zu erheben, Fakten zu dokumentieren und Aus- sagen zu treffen und zum anderen, dass Auseinandersetzungen um diese Aussagen auf Kriterien der Wissenschaftlichkeit beruhen sollten, nicht auf ‚gefühlten Wahrheiten‘ des Populismus oder Algorithmen sozialer Medien. Die Versuche der Wissenschaften, Lösungen für die Grand Challenges zu finden, verändern wiederum Wissenschaft: komplexe, systemische Herausforderungen erfordern Interdisziplinarität, forschend-lernende Zusammenarbeit mit gesellschaftlichen Akteur*innen (Transdisziplinarität), sowie das Einbeziehen anderer Wissensformen (z.B. indigenes Wissen); neue wissenschaftliche Methoden werden entwickelt. Die markanteste Besonderheit von Hochschul-BNE, die sie von anderen Bildungskontexten unterscheidet, ist die wissenschaftliche Bildung. Durch sie werden Studierende befähigt, sich nicht nur fundiert mit wissenschaftlichen Erkenntnissen auseinander zu setzen und Informationen und Debatten auf ihre Validität zu prüfen, sondern auch dazu, selbst neues Wissen zu generieren. BNE betont die Untrennbarkeit von Wissenschaft und Gesellschaft und ermöglicht Studierenden insbesondere:
    • Fragen zur Rolle und Verantwortung der Wissenschaften allgemein sowie speziell des eigenen Fachs in Bezug auf (nicht-)Nachhaltige Entwicklung zu stellen
    • Durch forschendes Lernen an wissenschaftlichen Beiträgen und Innovationen für nachhaltiger Entwicklung mitzuarbeiten
    • Teilzuhaben an der Weiterentwicklung von Wissenschaft, neuen Methoden der Wissensproduktion und -kommunikation, die den Herausforderungen unserer Zeit angemessen sind
  1. Normative Orientierung (Ethik): (B)NE beruht zentral auf normativen Setzungen: Menschliches Leben auf der Erde ist erhaltens- und fördernswert, deshalb müssen für unser Überleben gefährliche ökologische Veränderungen begrenzt werden. Dabei ist eine ungleiche Verteilung von ökologischen und ökonomischen Lasten und Nutzen zwischen sozialen/nationalen Gruppen ungerecht, daher sollen die Bedürfnisse der Ärmsten Priorität haben [7]. Hinzu kommt, dass auch nicht-menschliche Lebensformen einen Wert haben und menschliches Verhalten auch für diese Sorge tragen sollte. Diese normativen Setzungen sind gut begründet, z.B. im Diskurs der Menschenrechte, und werden auch gegenwärtig weiterentwickelt, z. B. in Diskursen der Dekolonialität, der Gerechtigkeitstheorien, der Tierethik und Umweltethik (Biologische Vielfalt). Die ethische Frage „was sollen wir tun“, aber auch „was sollen wir können“ wird im Diskurs der Nachhaltigen Entwicklung also innerhalb bestimmter normativer Rahmungen ausgehandelt, interpretiert, und immer wieder neu beantwortet. Entsprechend dieser ethischen Grundlagen und Zielsetzungen sollen gegenwärtige Produktions-, Wirtschafts- und Lebensweisen so verändert werden, dass ein gutes Leben für alle Heutigen und Künftigen innerhalb ökologisch sicherer und sozial gerechter Grenzen möglich wird: „A social foundation no one should fall below and an ecological ceiling of planetary pressure that we should not go beyond. Between the two lies a safe and just space for all.” [8:S.9]. Dies stellt wiederum Fragen an die Hochschule: Wie soll Forschung und Lehre in (dieser) gesellschaftlichen Verantwortung gestaltet werden? Ein Studium soll zur Übernahme von Verantwortung in der Gesellschaft befähigen – circa 80 Prozent der entscheidungstragenden Positionen sind mit Absolvent*innen aus Hochschulen besetzt [9], Karrieren in der Wissenschaft zu 100 Prozent. Verantwortung bezieht sich immer auf konkrete Werte und Normen. Entscheidungen wiederum beziehen sich auf das, was im Kontext dieser Werte und Normen als erstrebenswert bewertet wird. Das bedeutet, dass zur Hochschulbildung notwendigerweise auch eine ethische Bildung gehört, um gesellschaftliche und fachspezifische Werte und Normen erkennen, hinterfragen, und eigenständig bewerten zu können. BNE zeigt diese Notwendigkeit auf und ermöglicht Studierenden insbesondere:
    • ethische, insbesondere Gerechtigkeitsfragen der Herausforderungen der Gegenwart fachübergreifend zu erkunden, sowie bestehende gesellschaftliche Werte, Normen, und Praktiken fundiert daraufhin zu befragen
    • Fragen der Wissenschaftsethik in ihrem Fach um Fragen der anwendungsbezogenen Ethik und der möglichen Wirkungen fachlicher Forschung im Kontext Nachhaltiger Entwicklung zu erweitern
    • eigene Wertvorstellungen im gesellschaftlichen und globalen Kontext zu verstehen und zu hinterfragen und für sich selbst die Frage, was wir angesichts der Herausforderungen der Gegenwart „wollen und können sollen“, bewusst zu beantworten
  1. Emanzipatorischer Bildungsauftrag: Bildung für Nachhaltige Entwicklung soll Menschen befähigen, die gesellschaftliche Transformation vor dem Hintergrund der „Grand Challenges“ zu gestalten. Da Nachhaltige Entwicklung ein gesellschaftlich anerkanntes Ziel ist, ebenso wie Demokratie, ist dies schlüssig, birgt jedoch ein Spannungsfeld: Wenn Nachhaltigkeit bereits als normatives Ziel vorausgesetzt wird, und Bildung „dafür“ befähigen soll, dann scheint sie in Spannung zu stehen mit dem ersten Grundsatz des Beutelsbacher Konsens: Überwältigungs- bzw. Indoktrinationsverbot („Es ist nicht erlaubt, den Schüler – mit welchen Mitteln auch immer – im Sinne erwünschter Meinungen zu überrumpeln und damit an der „Gewinnung eines selbständigen Urteils“ zu hindern. Hier genau verläuft nämlich die Grenze zwischen Politischer Bildung und Indoktrination.“ [10]). Der Bildungsauftrag in säkularen, freiheitlich-demokratischen Staaten ist ein emanzipatorischer: Studierende sollen selbst kritisch denken, Informationen bewerten, begründet argumentieren, Konsequenzen bedenken, bewusst entscheiden und verantwortlich handeln lernen. BNE muss also Studierende befähigen, in Bezug auf die sozial-ökologischen Probleme der Gegenwart genau all das zu tun und Nachhaltige Entwicklung nicht als „die Antwort“, sondern als einen in demokratischen Prozessen entstandenen Antwortdiskurs auf die drängenden Fragen unserer Zeit zu begreifen, den sie mitgestalten können. BNE ist also keinesfalls ein „Erziehen“ zu einem bestimmten Verhalten, sondern eine Befähigung und Kompetenzentwicklung zur eigenständigen Beteiligung an unbestreitbar wichtigen gesellschaftlichen Prozessen. Darüber hinaus stellen Fragen der Nachhaltigen Entwicklung gesellschaftliche bzw. Mensch-Natur-Verhältnisse grundsätzlich in Frage und öffnen Raum für die Entwicklung alternativer Gesellschaftsentwürfe. BNE bringt hier politische und emanzipatorische Bildung als notwendige Bestandteile der Hochschulbildung wieder deutlich in den Vordergrund und ermöglicht Studierenden insbesondere:
    • gesellschaftliche Grundannahmen und Paradigmen (sowie die des eigenen Studienfachs) zu erkennen, zu analysieren, grundsätzlich in Frage zu stellen und neue Konzepte zu entwickeln
    • (Nicht-) Nachhaltige Entwicklung (sowie die Rolle des eigenen Studienfachs darin) im Kontext historisch-politisch-kultureller Entwicklungen und Machtverhältnisse zu analysieren und verstehen

Informierte, demokratische Beteiligung an gesellschaftlicher Veränderung zu lernen und zu erproben

In der Gegenwart ist es nicht mehr sinnvoll möglich, sich zu Fragen Nachhaltiger Entwicklung nicht zu verhalten. Die Frage ist, wie informiert, bewusst, und (pro)aktiv das eigene Verhalten sein wird. BNE schließt hier an den Bildungsauftrag der Hochschulen an und setzt diesen aktiv in Bezug zu den unstrittig drängenden, global relevanten sozial-ökologischen Herausforderungen. Dadurch verändert BNE Wissenschaft und Bildung in ihrem Selbstverständnis und ihrer Praxis; BNE entfaltet innovative Kraft. Durch die Kombination aus wissenschaftlicher, ethischer, und emanzipatorischer Bildung im Kontext der „Grand Challenges“ befähigt sie Studierende, diese eigenständig zu begreifen, zu bewerten, und selbst aktiv zu werden. So lässt sich auch die der BNE inhärente Spannung zwischen Normativität und Neutralität konstruktiv nutzen: Studierende können sich den Diskurs Nachhaltiger Entwicklung im Rahmen einer durch wissenschaftliche und ethische Methoden – auch und grade von ihnen selbst – „gut begründeten Normativität“ zu eigen machen und mitgestalten.

HERVORHEBEN/KASTEN:

Gute BNE ist normativ, aber nicht bevormundend. Sie orientiert, ohne Bildung (oder Studierende) zu instrumentalisieren. Dafür lehrt BNE Ethik und Wissenschaftlichkeit als Wege des Erkundens, Bewertens und Argumentierens von Fragen der Nachhaltigen Entwicklung. BNE als emanzipatorisches Bildungskonzept eröffnet gezielt Räume für kritisches Denken und Handeln und stellt Empowerment der Studierenden in den Mittelpunkt.


Weiterlesen

Eine Vielzahl an Publikationen führt in BNE als Bildungskonzept und deren Besonderheiten ein und begründet ihre Notwendigkeit als querschnittsorientierter Ansatz in allen Bildungsformen. Zentrale Publikationen sind frei zugänglich unter: https://en.unesco.org/themes/education-sustainable-development

Zur Vertiefung:

Barth, Matthias (2014): Implementing Sustainability in Higher Education. Routledge, London.

Rieckmann, Marco (2016): Bildung für nachhaltige Entwicklung – Konzeptionelle Grundlagen und Stand der Implementierung. In: Martin K.W. Schweer (Hg.): Bildung für nachhaltige Entwicklung in pädagogischen Handlungsfeldern. Grundlagen, Verankerung und Methodik in ausgewählten Lehr-Lern-Kontexten. Peter Lang, Frankfurt am Main, S. 11–32.

Rieckmann, Marco; Schank, Christoph (2016): Sozioökonomisch fundierte Bildung für nachhaltige Entwicklung – Kompetenzentwicklung und Werteorientierungen zwischen individueller Verantwortung und struktureller Transformation. In: SOCIENCE 1 (1), S. 65–79. Online verfügbar unter www.rce-vienna.at/SOCIENCE/vol1.pdf

Emanzipatorische Bildung und BNE:

Arjen E.J. Wals (2010) Between knowing what is right and knowing that is it wrong to tell others what is right: on relativism, uncertainty and democracy in environmental and sustainability education, Environmental Education Research, 16:1, 143-151, DOI: 10.1080/13504620903504099

Lotz-Sisitka et.al. (2015): Transformative, transgressive social learning: rethinking higher education pedagogy in times of systemic global dysfunction. Current Opinion in Environmental Sustainability, Vol. 16, October 2015, Pages 73-80 https://doi.org/10.1016/j.cosust.2015.07.018

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