HOCH-N:Freiheit und Verantwortung der Wissenschaft: Unterschied zwischen den Versionen
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Aktuelle Version vom 15. Januar 2024, 12:03 Uhr
Freiheit und Verantwortung der Wissenschaft | |
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Es wird die Nachhaltigkeitsforschung bzgl. der Freiheit und Verantwortung von Wissenschaft diskutiert. | |
Themenbezug | |
Zielgruppe | |
Forschende, Hochschulleitung, Politik, Nachhaltigkeitsbeauftragte(r), Forschungsförderer
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Schlüsselakteure | |
Nachhaltigkeit ist ein Verantwortungsdiskurs, dessen starke normative Aufladung in seiner Tiefenstruktur keineswegs zu gängigen Vorstellungen von Freiheit, Autonomie und wissenschaftlicher Exzellenz der Hochschulen passt (vgl. Strohschneider 2014). Sein integrativer Anspruch steht quer zum Prozess zunehmender Ausdifferenzierung (vgl. Mittelstraß 2015). Es wird befürchtet, dass die Freiheit der Wissenschaft für ethisch-politische Ziele in Anspruch genommen und so geopfert wird. Dies ist der Grund für kontroverse wissenschaftspolitische Debatten, die unter verschiedenen Überschriften wie z. B. „Transdisziplinarität“ (Mittelstraß 2003), „Öffentlichkeitswissenschaft“ (Beck 2007, 91f.), „citizen science“ (Finke 2014; Forschungswende 2018), „dialogisches“ und „integrales Hochschulsystem“ (Müller-Christ 2017, 166f.), „third mission“ (Institut für Hochschulforschung Halle-Wittenberg 2016), „Transformative Wissenschaft“ (Grunwald 2015; Schneidewind et al. 2013; Schneidewind 2015) oder „Sustainability in Science“ geführt werden (vgl. zum Folgenden auch Vogt 2018).
Man sollte daher den Anspruch an Wissenschaft, die Welt nicht nur zu denken, sondern auch zu gestalten, nicht primär aktivistisch als Verantwortungsappell auslegen, sondern zunächst wissenschafts- und normtheoretisch reflektieren. Das Kernproblem besteht in der Zuordnung von empirischen, normativen und transformativen Anteilen des Wissens (vgl. Vogt 2013; Schneider & Vogt 2018).
Auf der Grundlage einer kritischen ethischen Reflexion der Reichweite und der Grenzen der jeweils vorausgesetzten wissenschaftstheoretischen Modelle sollen stets die jeweiligen Anschlussstellen zu anderen wissenschaftlichen Disziplinen und anderen Kulturen diskutiert und so Kollaborationen ermöglicht werden. Diese Kollaboration zwischen den Disziplinen sowie zwischen Wissenschaft und weiteren gesellschaftlichen Akteur*innen effektiv auszugestalten, verlangt jedoch auch nach zusätzlichen epistemologischen und methodischen Ansätzen, die über die Disziplingrenzen hinausgehen. Nur auf diese Weise kann den komplexen Wechselwirkungen zwischen Mensch und Umwelt angemessen Rechnung getragen werden. Neben disziplin-spezifischen Ergebnissen der Wissenschaften stehen fächerübergreifende Forschungserkenntnisse im Vordergrund, da gerade diese aufgrund der Komplexität und Multikausalität der Entwicklungsprobleme von großer Bedeutung sind. Die Verbindung problemdiagnostizierender und lösungsorientierter Forschung durch Zusammenarbeit zwischen unterschiedlichen Fachdisziplinen sowie zwischen Hochschulen und weiteren Teilen der Gesellschaft verwirklicht den Charakter von Nachhaltigkeit als ein disziplinübergreifendes, normatives und gesellschaftsrelevantes Prinzip. Wissenschaft braucht innovative, inter- und transdisziplinäre Forschung in und zwischen Geistes- und Kulturwissenschaften, Rechts-, Wirtschafts- und Sozialwissenschaften sowie Natur- und Ingenieurwissenschaften und Medizin. Dabei wird die methodisch differenzierte Spezialisierung der Fachdisziplinen nicht aufgehoben. Wissenschaft lebt auch von Spezialisierungen. Forschung für eine Nachhaltige Entwicklung kann daher auch unter zentralen Teilaspekten wie beispielsweise Klimawandel, Bioökonomie oder Transformationsforschung firmieren. Bisweilen fördert dies eine konkrete Lösungsorientierung. Allerdings dürfen dabei die bereichsübergreifenden Querschnittszusammenhänge nicht aus dem Blick geraten.
Mit dem Anspruch der Nachhaltigkeit sollen die Hoch- schulen in gleicher Weise mit der Generierung von Systemwissen (Wissen über Zusammenhänge und Mechanismen in ökologischen und sozioökonomischen Systemen), Zielwissen (Wissen über wünschenswerte Systemzustände) und Transformationswissen (Wissen zur Auslösung und Ausgestaltung konkreter Veränderungsprozesse) Beiträge zu einer gesellschaftlich verantwortlichen Entwicklung leisten (vgl. ProClim 1998, 15-20). Wissenschaft kann hierbei als „Katalysator der Großen Transformation“ (vgl. Schneidewind 2018, 451) angesehen werden.
Hochschulen stehen jedoch einer Vielfalt heterogener Rollenerwartungen gegenüber: Ausbildung einer stetig wachsenden Zahl von Studierenden, Produktion von innovativem Wissen für die Wirtschaft, Ort des kritischen Denkens. Durch die Vielzahl der Erwartungen entsteht ein erheblicher Druck. Autonomie hilft dabei, die Produktivitäts- und Effizienzpotentiale zu mobilisieren. Häufig ist sie jedoch eine Scheinautonomie, da sie lediglich dazu genutzt wird, die faktischen Ressourcenzwänge mit einem Spektrum an naheliegenden Managementinstrumenten, die meist einem betriebswirtschaftlichen Rationalitätsmodell folgen, zu beantworten (vgl. Schneidewind et al. 2013, 84; Müller-Christ 2017, 171).
Die Steigerung universitärer Autonomie durch Befreiung von staatlichem und politischem Einfluss mündet nicht selten in eine Vereinnahmung durch andere Teilsysteme (z. B. Wirtschaft als Drittmittelgeber).
Um die Autonomie von Forschung zu sichern, bedarf es einer kritischen Auseinandersetzung mit den eigenen institutionellen Handlungsbedingungen. Hochschulen sind strukturpolitische Akteur*innen, d. h. Institutionen, die durch ihr Handeln nicht ausschließlich auf gesellschaftliche Rahmenbedingungen reagieren, sondern mit ihren Strategien auf diese aktiv einwirken (vgl. Schneidewind et al. 2013, 102). Dafür müssen sie die multiplen Anforderungen an Hochschulen als Chance ihrer Weiterentwicklung wahrnehmen und zu gesellschaftlichen Brückenbauer*innen zwischen den unterschiedlichen gesellschaftlichen Teilsystemen werden. Autonomie bedeutet, sich im Feld pluraler Ansprüche frei zwischen den Systemen zu bewegen. Dies wird nur gelingen, wenn die Spannungsfelder produktiv im Sinne eines intelligenten Dilemma-Managements, einer hohen Ambiguitätstoleranz sowie von Transparenz und Glaubwürdigkeit balanciert werden (vgl. Schneidewind et al. 2013, 86f.).
Das stärkste Argument gegen die wissenschafts- oder hochschulpolitische Förderung von nachhaltigkeitsorientierter Forschung ist, dass dies unvereinbar sei mit der Autonomie der Universitäten und der Freiheit der pluralistischen Forschung. Sie münde in subtile Formen von Planwissenschaft. Sie instrumentalisiere die Wissenschaft für politisch und damit außerwissenschaftlich definierte Ziele. Das Modell der transformativen Wissenschaft münde in eine Preisgabe der wissenschaftlichen Wahrheitssuche zugunsten des Kriteriums einer spezifischen gesellschaftlichen Nützlichkeit (vgl. Strohschneider 2014, 181).
Dem ist entgegenzuhalten, dass Nachhaltigkeit kein extern vorgegebenes und festgelegtes Ziel ist, sondern ein offener Suchprozess mit heterogenen Zielkomponenten, der sich von daher plural und kulturvariabel gestaltet (vgl. Vogt 2013, 134-179 und 369-372). Sie ersetzt keine normativen Debatten, sondern fordert sie heraus. Voraussetzung dafür ist freilich, dass das Adjektiv „nachhaltig“ nicht synonym für „gut“ verwendet und als per se gut bewertet wird, sondern die damit verbundenen Zielkonflikte benannt werden. Transformative Wissenschaft thematisiert die Bedingungen und Ziele des Forschens. Sie zielt nicht auf eine Aufweichung von Qualitätsstandards zugunsten praktischer Zwecke, sondern auf eine selbstreflexive und pluralistische Wertdebatte über gute Bildung und exzellente Forschung. Dabei wird die Fähigkeit der Wissenschaft, nicht nur Daten zu sammeln, sondern diese auch zu bewerten und Handlungsempfehlungen zu geben, als Exzellenzkriterium verstanden. Dies zielt auf eine „Exzellenz der Verantwortung“, die sich in der Fähigkeit bewährt, die epistemischen und strukturellen Ursachen von Werte- und Gerechtigkeitskonflikten aufzuzeigen und dabei auch Dilemmata zu benennen, zugleich aber klare Optionen und Prioritäten zu vertreten.
Das Konzept „Forschen in gesellschaftlicher Verantwortung“, das im Zuge des LeNa-Projekts erarbeitet wurde (Fraunhofer-Gesellschaft et al. (Hg.) 2016, 38-40), hat methodische Maßstäbe gesetzt, die auch für Hochschulen fruchtbar gemacht werden können. Es bedarf jedoch einer ethisch-systematischen Reflexion über den Begriff „Verantwortung“ (vgl. Vogt 2016, 7-38). Dieser erschließt Zugänge zu einem existentiellen Verständnis dessen, was Ethik ist: Sie ist nicht einfach die deduktive Anwendung von Normen und Prinzipien in geschlossenen Theoriemodellen. Eine Ethik der Verantwortung meint das Antwort-Geben auf die Herausforderungen des Zusammenlebens in der jeweiligen Situation. Sie ist aufmerksame Sorgfalt im Umgang mit Menschen sowie komplexen technischen und gesellschaftlichen Herausforderungen. Verantwortung als Tugend meint das aktiv planende und stets lernbereite Wahrnehmen von Gestaltungsmöglichkeiten des Lebens. Sie ist eine Grundhaltung. Verantwortung äußert sich in der Bereitschaft, sich und anderen für das eigene Handeln Rechenschaft zu geben. Auch die Hochschulen sind angesichts der tiefen Umbrüche gegenwärtiger Entwicklung herausgefordert, über die Legitimität ihrer Art der Wissensproduktion Rechenschaft abzulegen.
Die Kunst der Verantwortung ist die Unterscheidung zwischen verschiedenen Ebenen von Zuständigkeiten und Graden von Verbindlichkeit, die Unterscheidung zwischen Vorrangigem und Nachgeordnetem sowie die konsequente Ausrichtung auf Befähigungsgerechtigkeit im Sinne subsidiärer Stärkung von Autonomie, Eigenpotentialen und Partizipation. Dafür spielt Wissensgenerierung und -vermittlung eine zentrale Rolle. Verantwortung ist nicht nur deklamatorisch vom Wünschenswerten her zu denken, sondern ebenso von ihrem konstitutiven Bezug auf Freiheit. Freiheit entsteht aus der Praxis von Verantwortung. Die wichtigste Form der Verantwortung von Hochschulen ist und bleibt, Personen zu befähigen, ihr Reflexionspotential zu stärken und gemeinsam zeitgemäßes Handlungswissen zu erarbeiten. Kluge und verantwortungsfähige Persönlichkeiten sind eine unverzichtbare „Ressource“ moderner Wissensgesellschaften. Die vornehmste Verantwortung der Universitäten ist die Freiheit des Denkens.
Weiterführende Literatur
Fraunhofer-Gesellschaft, Helmholtz-Gemeinschaft, Leibniz-Gemeinschaft (Hg.) (2016) Nachhaltigkeits- management in außeruniversitären Forschungs- organisationen. Handreichung, München.
Müller-Christ, G. (2017) Nachhaltigkeitsforschung in einer transzendenten Entwicklung des Hochschulsystems – ein Ordnungsangebot für Innovativität, in: Leal, W. (Hg.): Innovationen in der Nachhaltigkeitsforschung – ein Beitrag zur Umsetzung der UN-Nachhaltigkeitsziele. Springer-Verlag Heidelberg, 161-180.
Schneidewind, U. (2018) Die Große Transformation. Eine Einführung in die Kunst gesellschaftlichen Wandels, Frankfurt am Main.
Strohschneider, P. (2014) Zur Politik der Transformativen Wissenschaft. In A. Brodocz, D. Hermann, R. Schmidt, D. Schulz & J. Schulze Wessel (Hg.), Die Verfassung des Politischen (S. 175-192). Wiesbaden: Springer Fachmedien Wiesbaden.
Vogt, M. (2018) Grenzen der Harmonie. Zur Spannung zwischen Freiheit und Verantwortung in der Wissenschaft, in: Homepage Verbundprojekt HOCHN, https:// www.hochn.uni-hamburg.de/-downloads/180717-vor- trag-vogt-freiheit-und-verantwortung.pdf (Letzter Abruf vom 20.09.2018).