Nach Ware und Scott (2008) lassen sich zwei Strömungen der Bildung für Nachhaltige Entwicklung unterscheiden: ESD 1 und ESD 2. ESD 1 basiert auf der Annahme, dass es spezifische Werte und Verhaltensweisen gibt, die eindeutig mit nachhaltiger Entwicklung verbunden sind und von Expert*innen identifiziert werden können. Ziel der Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE) ist es demnach, ein Bewusstsein für nachhaltige Entwicklung zu schaffen, Werte zu vermitteln und nachhaltiges Verhalten zu fördern. Im Bildungsprozess sollen bestimmte Verhaltensweisen, die als ökologisch, ökonomisch, oder sozial nachhaltig gelten, gefördert werden (vgl. Vare & Scott, 2007). Unter Bezugnahme auf umweltpsychologische Ansätze (vgl. Wals, 2011) werden Anreize geschaffen, um nachhaltiges Verhalten attraktiv zu machen.
ESD 2 verfolgt einen reflexiveren Ansatz. Hier steht weniger die Vorgabe von Denk- oder Verhaltensweisen im Vordergrund, sondern vielmehr die Befähigung der Individuen, selbst über Fragen der nachhaltigen Entwicklung nachzudenken und eigene Antworten zu finden (vgl. Vare & Scott, 2007). In diesem Sinne wird nachhaltige Entwicklung als ein offener gesellschaftlicher Lernprozess betrachtet. Leitend ist dabei die Erkenntnis, dass oft nicht sicher ist, welche Verhaltensweisen tatsächlich die nachhaltigeren sind (gl. Wals, 2011).
Bildung für nachhaltige Entwicklung nach dem Konzept von ESD 2 zielt also darauf ab, eine kritische Auseinandersetzung mit der nachhaltigen Entwicklung und den damit verbundenen komplexen, unsicheren und widersprüchlichen Aspekten zu ermöglichen. Der Schwerpunkt liegt auf dem Aufbau von Fähigkeiten und der Förderung kritischen Denkens, um eigenständige Entscheidungen im Sinne einer nachhaltigen Entwicklung treffen zu können (vgl. Wals, 2011).
Aus pädagogischer Perspektive wird die ESD 2 favorisiert, da sich BNE nicht auf die Ziele, Zwecke und Absichten des Handelns beziehe, sondern auf die Wirkungen. Individuen sollen in der Lage sein aufgrund von bestimmten Zielen, Zwecken und Absichten im Sinne der nachhaltigen Entwicklung handeln zu können. Durch das Integrieren von innovativen Lehrformaten in die Lehre werden Möglichkeiten und Räume eröffnet, um nachhaltig zu handeln – es soll jedoch nicht zu einem nachhaltigkeitskonformen Verhalten und Handeln erzogen werden. Dieser emanzipatorische Ansatz der Bildung für nachhaltige Entwicklung betrachtet die Vermittlung von Schlüsselkompetenzen als zentrales Bildungsziel, um Individuen zur aktiven Mitgestaltung des Prozesses nachhaltiger Entwicklung zu befähigen.
Grundsätzlich wird davon ausgegangen, dass durch eine BNE Gestaltungskompetenzen erworben werden. Diese bezeichnen die Fähigkeit, das über Nachhaltige Entwicklung erworbene Wissen anwenden und dadurch auch Probleme nicht Nachhaltiger Entwicklung erkennen zu können. Die Lernenden sollen also Schlussfolgerungen über Nachhaltige Entwicklung, das Zusammenspiel der sozialen, ökologischen und ökonomischen Dimension der Nachhaltigkeit ziehen und darauf basierend Entscheidungen treffen können. Die erworbenen Kompetenzen fördern ein Verständnis für Probleme nicht nachhaltiger Entwicklung und befähigen dazu individuelle sowie Gesellschaftliche Entscheidungen reflektieren zu können. Im Detail umfasst die Gestaltungskompetenz zwölf Teilkompetenzen, die sich aus der Nachhaltigkeitswissenschaft ableiten lassen, teilweise normativ begründet sind und aus der sozialen Praxis sowie der Zukunftsforschung gewonnen werden. Die Teilkompetenzen gliedern sich unter die Bereiche der "Sach- und Methodenkompetenz", der "Sozialkompetenz" und der "Selbstkompetenz". Durch die Integration von innovativen Lehrformaten für BNE in die eigene Lehrpraxis, werden alle Bereiche adressiert.
Die zwölf Teilkompetenzen:
- Kompetenz zur Perspektivübernahme
- Kompetenz zur Antizipation
- Kompetenz zur Disziplinen übergreifenden Erkenntnisgewinnung
- Kompetenz zum Umgang mit unvollständigen und überkomplexen Informationen
- Kompetenz zur Kooperation
- Kompetenz zur Bewältigung individueller Entscheidungsdilemmata
- Kompetenz zur Partizipation
- Kompetenz zur Motivation
- Kompetenz zur Reflexion auf Leitbilder
- Kompetenz zum moralischen Handeln
- Kompetenz zum eigenständigen Handeln
- Kompetenz zur Unterstützung anderer
Neben diesen zwölf Teilkompetenzen werden auch die Kompetenz zum Kritischen Denken sowie Selbstkompetenz als besonders wichtig für eine nachhaltige Entwicklung betrachtet. Die folgenden acht Nachhaltigkeitskompetenzen werden demnach im internationalen BNE-Diskurs als besonders relevant angesehen (vgl. Rieckmann, 2018; UNESCO, 2017):
- Kompetenz zum Vernetzen Denken: die Fähigkeiten, Zusammenhänge zu erkennen und zu verstehen; komplexe Systeme zu analysieren; zu überlegen, wie Systeme in verschiedene Domänen und verschiedene Skalen eingebettet sind; und mit Unsicherheit umzugehen.
- Kompetenz zum Vorausschauenden Denken: die Fähigkeiten, multiple (mögliche, wahrscheinliche und wünschenswerte) Zukünfte zu verstehen und zu bewerten; eigene Visionen für die Zukunft zu schaffen; das Vorsorgeprinzip anzuwenden; die Konsequenzen von Handlungen zu beurteilen; und mit Risiken und Veränderungen umzugehen.
- Normative Kompetenz: die Fähigkeiten, die Normen und Werte zu verstehen und zu reflektieren, die den eigenen Handlungen zugrunde liegen; und Nachhaltigkeitswerte, Prinzipien und Ziele im Kontext von Interessenkonflikten und Trade-Offs, unsicheren Kenntnissen und Widersprüchen zu verhandeln.
- Strategische Kompetenz: die Fähigkeiten zur kollektiven Entwicklung und Umsetzung innovativer Maßnahmen, die Nachhaltigkeit auf lokaler Ebene und darüber hinaus voran bringen.
- Kooperationskompetenz: die Fähigkeiten, von anderen zu lernen; die Bedürfnisse, Perspektiven und Handlungen anderer zu verstehen und zu respektieren (Empathie), andere zu verstehen, eine Beziehung zu ihnen aufzubauen und für sie empfindsam zu sein (empathische Führung); mit Konflikten in einer Gruppe umzugehen; und eine kollaborative und partizipative Problemlösung zu ermöglichen.
- Kompetenz zum Kritischen Denken: die Fähigkeit, Normen, Praktiken und Meinungen zu hinterfragen; die eigenen Werte, Wahrnehmungen und Handlungen zu reflektieren; und sich im Nachhaltigkeitsdiskurs zu positionieren.
- Selbstkompetenz: die Fähigkeit, über die eigene Rolle in der lokalen Gemeinschaft und (globalen) Gesellschaft nachzudenken; kontinuierlich seine Handlungen zu bewerten und sich weiter zu motivieren; und sich mit den eigenen Gefühlen und Wünschen auseinanderzusetzen.
- Integrierte Problemlösekompetenz: die übergreifende Fähigkeit, unterschiedliche Problemlösungsrahmen für komplexe Nachhaltigkeitsprobleme anzuwenden und passfähige, inklusive und gerechte Lösungsmöglichkeiten zu entwickeln, die eine nachhaltige Entwicklung fördern und die oben genannten Kompetenzen integrieren.
Dies soll lediglich eine kurze Orientierung zu Strömungen der BNE und Ansätzen von Kompetenzmodellen geben, wohlwissend, dass eine Vielzahl an Ansätzen und Kompetenzmodellen besteht. Außerdem sollte in Betracht gezogen werden, dass der alleinige Erwerb von Schlüsselkompetenzen nicht ausreichend ist, um nachhaltig zu handeln – es braucht zusätzlich einen guten Willen und eine gute Urteilsfähigkeit der Lernenden. Dies kann jedoch durch die Anwendung passender Methoden und Tools von den Lehrenden unterstützt werden.
Quellen:
- Bormann, I., & Haan, G. de (Hrsg.). (2008). Kompetenzen der Bildung für nachhaltige Entwicklung: Operationalisierung, Messung, Rahmenbedingungen, Befunde (1. Aufl). VS Verlag für Sozialwissenschaften.
- Rieckmann, M. (2018). Die Bedeutung von Bildung für nachhaltige Entwicklung für das Erreichen der Sustainable Development Goals (SDGs). ZEP – Zeitschrift für internationale Bildungsforschung und Entwicklungspädagogik, 2018(02), 4–10.
- Rieckmann, M. (2020): Bildung für nachhaltige Entwicklung im Kontext der Sustainable Development Goals. In: Kminek, H./ Bank, F./ Fuchs, L. (eds.): Kontroverses Miteinander. Interdisziplinäre und kontroverse Positionen zur Bildung für eine nachhaltige Entwicklung. Frankfurt am Main: Goethe-Universität Frankfurt (Frankfurter Beiträge zur Erziehungswissenschaft), pp. 57–85.
- UNESCO (2017). Education for sustainable development goals: Learning objectives. Paris: UNESCO.
- Vare, P. & Scott, W (2007). Learning for a change: Exploring the relationship between education and sustainable development. Journal of Education for Sustainable Development, 1(2), 191-198.
- Wals, A. E. J. (2011). Learning our way to sustainability. Journal of Education for Sustainable Development, 5(2), 177-186.